Adrienne Haan: „Wir brauchen ein Mindestgrundeinkommen pro Monat für alle Künstler“

Adrienne Haan: „Wir brauchen ein Mindestgrundeinkommen pro Monat für alle Künstler“

Adrienne Haan: „Wir brauchen ein Mindestgrundeinkommen pro Monat für alle Künstler“ 1900 1267 SOS - Save our Spectrum

Bild von Adrienne Hahn, Foto: Jack Denver

„Eine außergewöhnliche Sängerin mit einer großartigen Stimme“ – so charakterisierte die Berliner Morgenpost die Sängerin Adrienne Haan, die in New York und Deutschland lebt. Haan ist eine Schauspielerin und Sängerin, die sich auf Musik der 1920er und 30er Jahre spezialisiert hat. Sie ist international bekannt und tritt in der ganzen Welt auf.

Wie erleben Sie als Künstlerin die momentane Krise?

Die Krise ist eine sehr große Belastung für alle freischaffenden Künstler. Trotz fehlender Auftritte arbeite ich weiterhin viel an Projekten. Natürlich alle unentgeltlich, aber man muss sich irgendwie beschäftigen. Ich nehme zurzeit meine neue Platte TEHORAH auf. Auch habe ich aufgrund der ungewissen Situation große Zukunftsängste, zum einen finanzieller Art, zum anderen steht man „vor den Trümmern all seiner Arbeit“. Alle meine schwer erarbeiteten Konzerte wurden abgesagt oder verlegt. Darunter sind Auftritte weltweit: USA, Kanada, Europa, China, Südamerika. Es war immer mein Traum, das zu erreichen. Ich arbeite seit einigen Jahren auf allen Kontinenten. Das hat 13 Jahre Vollzeitvorarbeit gekostet. Wann und ob es weiter geht, kann niemand wissen, vor allem nicht, wie lange dieser shut-down anhalten wird.

Der „Rheinischen Post“ haben Sie in einem Interview gesagt, dass viele Künstler durch ein Sicherungsnetz fallen. Weshalb ist das so?

Die prekäre Lage der Künstler sieht folgendermaßen aus: 49% aller freischaffenden Künstler in Deutschland, das ist also knapp die Hälfte, sind nicht in der Künstlersozialkasse. Warum Hilfen, die nicht reichten, nur für Künstler galten, die in der Sozialkasse sind, ist vollkommen unklar. 2500 Künstler bekamen die von NRW angekündigten 2000 EUR Soforthilfe. 17.000 weitere Anträge, die bis Anfang April eingegangen sind, konnten bisher nicht mehr bearbeitet werden, denn das Geld war aufgebraucht. Tatsache ist, dass das „Gros“ der Künstler nicht einen Cent bekommen hat. In anderen Bundesländern gab es gar keine Soforthilfe.

Sie haben den Begriff „Künstlermittelstand“ geprägt. Was meinen Sie damit?

Nicht jeder Künstler lebt von der Hand in den Mund. All das gibt es natürlich auch und das Bild „vom armen Künstler“ wird ja auch immer gern in der Presse berichtet, aber es gibt auch Künstler, die weder berühmt noch reich sind, aber dennoch von ihrer Kunst leben können. sagen wir, man kommt über die Runden. Das ist der Künstlermittelstand. Man lebt von live Konzerten, Tonträgerverkauf, Unterricht, Workshops oder ähnlichem. All das fällt jetzt weg. Es geht nicht darum, für Künstler einen Sonderweg zu finden, aber wenn man Soloselbständigen in Deutschland hilft, dann sollte man auch den selbstständigen Künstlern in dieser Krise helfen. Außer dem Gang zum Sozialamt gibt es da bisher nichts.

Ihre zweite Heimat sind die USA. Wie ist die Lage dort?

Sehr schlimm. Die meisten Künstler in NY leben von einem paycheck zum nächsten, von einem cash-Gig zum anderen. Das Leben da ist zu teuer, als dass man sich Rücklagen erarbeiten kann. Dazu kommt: Die Künstler hausen regelrecht in engen Wohnungen, teilweise auch mit vielen anderen Kollegen. Das allein ist schon sehr deprimierend. Es gibt keine soziale Absicherung, die meisten haben nicht mal eine Krankenversicherung. Ich kenne Musiker, die sich das Essen nicht mehr leisten können. Ein Gang zum Arzt ist vollkommen unmöglich. Deswegen haben viele große Angst. Bei einer eventuellen Ansteckung mit Covid 19 trauen sich viele wegen der Kosten nicht in ein Krankenhaus. Viele stehen vor dem kompletten Absturz, vor dem Ruin. In den USA stehen viele vor dem psychischen Kollaps. Ich kenne eine Menge von ihnen persönlich und wir stehen im regen Kontakt. Die Hilflosigkeit hier macht mich allerdings ziemlich fertig.
Das Positive: Gouverneur Andrew Cuomo in New York hat vor einigen Wochen ein Gesetzt per Eilantrag erlassen, in dem niemanden in NY seine Wohnung bis Ende Juni gekündigt werden darf. Dies ist sehr gut für die zig Tausenden Einwohner New Yorks, die zurzeit wegen Arbeitslosigkeit die horrend teuren Mieten nicht mehr zahlen können. Zwei meiner Musiker können keine Miete mehr zahlen und ihr Vermieter darf sie also nicht herauswerfen. Das ist zumindest etwas. So etwas kann man sich in Deutschland oder Luxemburg (ich bin ja Staatsbürgerin beider Länder) nicht vorstellen!

Was ist Ihre persönliche Botschaft an Kulturministerin Monika Grütters?

Wir brauchen jetzt sofort ein Mindestgrundeinkommen pro Monat (und zwar rückwirkend!) für ALLE Künstler, nicht nur für einen ausgewählten Bereich. Den freischaffenden Theatern muss JETZT geholfen werden, sie schaffen das nicht allein. Wir müssen Perspektiven haben, die Theater wieder zu eröffnen. Die von den Gesundheitsämtern zugrunde gelegten Maßnahmen sind eine Farce und von den meisten Theatern –aufgrund fehlender Wirtschaftlichkeit – kaum umsetzbar. Während der ganzen „Corona-Zeit“ ist das Thema Kultur und Kulturschaffende in der öffentlichen Meinung und im politischen Diskurs viel zu kurz gekommen, ohne dass ich all die anderen Themen kleinreden möchte. Wir alle brauchen die Hilfen. JETZT!

Sie haben auf Facebook ein Künstlerportal erstellt. Was hat es damit auf sich?

Wen es interessiert: ich habe auf facebook eine neues Künstlerportal erstellt, auf dem Künstler frei posten dürfen. Dieses heißt: „One world! Music for comfort during the time of Covid 19”. Wenn ihr mögt, besucht die Seite, teilt sie und “liked” sie. Die Künstler werden sich über diese Aufmerksamkeit in diesen harten Zeiten sehr darüber freuen. Allerdings verdient man auch hier kein Geld mit: https://www.facebook.com/musicforcomfort/?modal=admin_todo_tour

Wo kann man Adrienne Haan demnächst erleben – live oder digital?

LIVE Auftritte sind erstmal gar nicht denkbar. In der 2. Jahreshälfte soll es vielleicht wieder Konzerte in Deutschland, Luxemburg und New York geben, aber all das ist bisher überhaupt nicht absehbar. Bis dahin heißt es: gut haushalten, denn es kommt kein Geld rein! Der Frust hier ist, dass man jahrelang für diese Konzerte gekämpft hat. Ich habe weder einen Agenten noch eine Konzertagentur, sowie 98% aller Künstler, und mache alles allein. Da ist man den ganzen Tag über Stunden nur mit Akquise und Büroarbeit beschäftigt. Es ist ein harter Job und man braucht viel Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen. Das sehen natürlich viele, die nicht in dem Bereich arbeiten, nicht.
Ich habe allein dieses Jahr wieder 2 neue Shows geschrieben. Sowas dauert Wochen. Dies ist Zeit, die man in seine Karriere steckt, ohne dass man etwas verdient. Und jetzt der Schock, dass alles erstmal abgesagt ist.

Ich habe in den letzten Wochen sehr viele neue Clips erstellt, die man auf youtube findet. Alles zur Reihe „Music For Comfort“, einige allein, einige zusammen mit meinem guten Freund und Kollegen Heinz Walter Florin. Außerdem habe ich einen Song geschrieben, der „Contemplation“ heisst und sich mit der Situation der Menschen zu diesen jetzigen Zeiten auseinandersetzt. Es geht auch darum, sich einmal selber Fragen zu stellen: wie wir alle wirklich gelebt haben, wie wir die Welt zerstört haben und was nun jetzt mit uns passiert. Wie immer sind meine Texte etwas philosophisch, auch wenn es sich hier um einen Pop Song handelt. Den Song findet man bisher unter:

Ich schreibe viele eigene Songs zurzeit, zusammen mit meinem Partner Darren Williams aus Sydney. Wir haben bisher eine ganze Reihe fertiger Songs, die nur auf einen Produzenten warten, denn wenn man alles produzieren muss, kostet es ein Vermögen, das wir vor allem zurzeit nicht haben.
Gerne würde ich dafür einen Produzenten finden! Das wäre ein Traum und würde auch einfach mal etwas Geld einspielen. Das wäre wichtig und nötig!

Das Interview führte Jochen Zenthöfer am 11. Mai 2020 für die Initiative „SOS – Save Our Spectrum“.

Foto: Jack Denver

Webseite von Adrienne Haan: http://adriennehaan.de/
Künstlerportal auf facebook: https://www.facebook.com/musicforcomfort

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